Thixotropie
In Skandinavien gibt es seltsam reagierende Böden. ©Herbert Funk

In den Küstengebieten Skandinaviens, Kanadas und anderer subpolarer Regionen gibt es Landschaftsbereiche, in welchen der Boden und tiefere Untergrund ein merkwürdiges Verhalten aufweisen. Sie bestehen dort aus Tonen, die so empfindlich sind, dass schon geringe Anstöße genügen, um große Areale ins Rutschen und Fließen zu bringen. Dies kann selbst bei ganz geringen Hangneigungen geschehen. Derartige Tone werden bezeichnenderweise Flottlehm oder Quickton genannt. Quicktone wurden während der letzten Eiszeit im küstennahen Meer abgelagert. Die einzelnen Partikel dieser Tone sind in der überwiegenden Mehrzahl blättchenförmige Tonminerale. Ihre Größe liegt bei weniger als 0,002 Millimeter.

Die Flächen und Kanten der Tonminerale waren im salzigen beziehungsweise alkalischen Milieu des Meerwassers negativ geladen. Gleiche Ladungen stoßen sich bekanntlich ab. Zum Ladungsausgleich wurden Kationen, also positiv geladene Teilchen, angelagert. Im Fall der im Meer abgelagerten Tone stammten die Kationen vom Meer- oder Kochsalz, dem NaCl. Sie lagen somit als Na+-Ionen vor. Durch die sehr hohe Na+-Konzentration waren die Tonteilchen fest über ihre Flächen und Kanten verbunden. Als die Gletscher der Eiszeit abschmolzen wurde die Erdkruste vom Gewicht des Eises entlastet. Dadurch erhoben sich die ehemals vergletscherten Gebiete um bis zu 300 Meter und die Tone gelangten an die Landoberfläche.

Die Na+-Ionen wurden nun allmählich durch Regen und elektrolytarmes Grundwasser ausgewaschen. Dadurch nahm die Na+-Konzentration zwischen den Tonpartikeln ab und sie begannen sich abzustoßen. Der pH-Wert sank ebenfalls. Im sauren Milieu entstehen jedoch an den Kanten der Tonplättchen positive Ladungen. Die positiven Kantenladungen bei saurem Milieu werden durch Anionen beziehungsweise negative Ladungen kompensiert. Da die Flächen der Tonminerale sich nun abstießen erfolgte die Plättchenverbindung über eine positive Kante mit einer negativ geladenen Fläche. Die Tonminerale waren jetzt ähnlich wie Spielkarten in einem Kartenhaus gelagert. Geringste mechanische Einwirkungen genügen in einem solchen Zustand, um Rutschungen auszulösen, bei denen sich einige hunderttausend Kubikmeter Ton zähfließend bewegen können.

Man bezeichnet diese Toneigenschaften als Thixotropie (von griechisch thiggáno = berühren und trópos = Richtung, Wendung). Ende November 1977 wurde der schwedische Inselort Tuve bei Göteborg durch eine Erschütterung von thixotropen Tonen von einer Katastrophe heimgesucht. Weit über 60 Häuser wurden zerstört und neun Menschen kamen ums Leben, als der Boden auf einer Fläche von 27 Hektar zusammenbrach und wegrutschte.  Auf die gleiche Weise wurden 1893 in einem Teilbereich des Trondheim-Fjords in Norwegen 55 Millionen Kubikmeter Ton in zwei Stunden über eine Distanz von acht Kilometern verlagert. Beim schweren Erdbeben von Alaska im Jahr 1964 waren zahlreiche Zerstörungen auf die thixotropen Eigenschaften des Untergrundes zurückzuführen.