Gletscherrückzug: Bakterien verwandeln Steinwüsten in blühende Natur
Erstmals ist es einem Forscherteam der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) gelungen, das gesamte Artenspektrum an Mikroorganismen im Vorfeld eines Alpengletschers zu bestimmen. Am Dammagletscher im Kanton Uri (Schweiz) erhalten sie nun einen einmaligen Einblick in die Bildung des Bodens und die Entwicklung neuen Lebens.
Ziehen Gletscher sich zurück, geben sie unwirtliche Landschaften frei. Doch bereits nach wenigen Jahren erobern Pflanzen und Tiere die auf den ersten Blick lebensfeindlichen Steinwüsten zurück. Wie es dem neuen Leben gelingt, auf dem unfruchtbaren Untergrund Fuß zu fassen, untersuchte ein Wissenschaftlerteam um Beat Frey, Bodenökologe an der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft, im Gebiet des Dammagletschers. Erstmals gelang es den Forschenden, das gesamte Artenspektrum an Bakterien, Pilzen und Algen im Boden eines Gletschervorfelds zu analysieren. Das ermöglichte ihnen einen einmaligen Einblick in das verborgene Innenleben des Bodens und somit in die frühe Bodenentwicklung und die Entstehung einer neuen Lebensgemeinschaft.
Seit 2007 beobachtet das Forscherteam das Vorfeld des Dammagletschers in den Urner Alpen. Die Wissenschaftler sammelten 144 Bodenproben und bestimmten alle vorkommenden Arten mit Hilfe einer erst seit kurzem verfügbaren Technologie, basierend auf DNA-Sequenzen. Die Ergebnisse überraschten sie. „Schon nach wenigen eisfreien Jahren besiedelt eine enorme Vielfalt an Mikroorganismen das Gletschervorfeld“, sagt Frey. „Wir haben zwischen 1000 und 1300 Arten in den Bodenproben gefunden. Dabei kann man noch kaum von Boden reden. Es ist lediglich eine Mischung aus vom Gletscher feingemahlenem Sand und Geröll.“ Kohlen- und Stickstoff, lebensnotwendige Baustoffe für das Pflanzenwachstum, fehlen fast vollständig. Keine Pflanze hat hier Chancen Wurzeln zu schlagen und längerfristig zu überleben. Die gefunden Mikroorganismen jedoch trotzen der kargen Umgebung, überziehen die Steinwüste mit einem grünen Rasen und reichern den Boden mit Nährstoffen an.
Abgestorbene Bakterien erhöhen Fruchtbarkeit des Bodens
„Ein Typ von Arten, den wir auf dem frisch freigelegten Gletschervorfeld fanden, sind sogenannte Cyanobakterien sowie Grünalgen“, erklärt Thomas Rime, Doktorand im Forschungsteam von Beat Frey. „Sie benötigen keinen fruchtbaren Boden. Sie setzen sich direkt auf die kahlen Steine oder den Sand und holen sich den benötigten Kohlen- und Stickstoff aus der Luft und dem geschmolzenen Gletschereis.“ Mittels Photosynthese produzieren sie daraus organisches Material, das sie in ihrem Körper einbauen. Sterben die Organismen, wandeln sich deren Überreste in organische Bodenbestandteile um; eine feine Humusschicht beginnt das Gletschervorfeld zu überziehen.
Die gefundenen Mikroorganismen sind erstaunliche Lebewesen. Sie kommen mit den extremen Bedingungen des Gletschervorfelds bestens zurecht und stören sich nicht an den starken Temperaturschwankungen von bis zu 40° Celsius an der Oberfläche. Trockenperioden überstehen sie mithilfe klebriger Fäden, die Wasser zurückhalten können. Die Organismen profitieren sogar von der nahezu schattenlosen Umgebung. Sie sind resistent gegen die hohe UV-Strahlung in den Bergen und können so das reichhaltig vorhandene Licht für die Photosynthese nutzen und organisches Material herstellen.
Steinfressende Bakterien setzen Mineralstoffe frei
„Sobald eine erste dünne Schicht Boden vorhanden ist, siedeln sich weitere sogenannte heterotrophe Mikroorganismen an“, erläutert Thomas Rime. „Diese Arten nutzen den im Boden gespeicherten Kohlen- und Stickstoff als Nahrungs- und Energiequelle“. Weitere wichtige Nährstoffe besorgen sie sich, indem sie sozusagen die Steine anknabbern. Sie heften sich an die Felsen an, scheiden kleine Mengen an Säuren aus und lösen damit das Gestein langsam auf. Die freiwerdenden Mineralstoffe wie Eisen, Phosphor oder Zink werden verspeist. Das, was bei der Mahlzeit übrig bleibt, trägt zur Fruchtbarkeit des Bodens bei.
Der Wiederbesiedlung durch Pflanzen steht nun nichts mehr im Weg. Blickt man vom Gletschervorfeld hinunter in Richtung Tal, so lässt sich erkennen, wie zuerst Moose und Flechten, dann Kräuter und Sträucher und schliesslich nach über 100 Jahren auch ausgewachsene Bäume das ehemals vereiste Tal besiedeln.
Der Gletscherrückgang der vergangenen Jahrzehnte ermöglicht einen eindrücklichen Einblick in die Entstehung neuer Lebensgemeinschaften und die Entwicklung neuer Ökosysteme. Solche Bedingungen finden sich nur selten. „Das Feld unterhalb des Dammagletschers ist für uns Forschende ein perfektes Freiluftlabor“, so Frey. „Es ist daher auch eines der am intensivsten beobachteten Gletschervorfelder in den Alpen“.
Quelle: IDW
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